Anmerkungen zum Draghi Bericht von Austrian Senior Expert Erich Unterwurzacher.
In einer sich rapide wandelnden Welt mit neuen Herausforderungen muss die Europäische Union ihre Anstrengungen wesentlich verstärken um wettbewerbsfähiger zu werden und das Erreichte abzusichern. Die Weichen dafür sind jetzt zu stellen.
Die Europäische Kommission hat Mario Draghi, den ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank und Premierminister Italiens, beauftragt, einen Bericht über seine persönliche Vision zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit zu erstellen; dieser wurde im September veröffentlicht. Gemeinsam mit unlängst von der Kommission vorgestellten Empfehlungen zur Stärkung des Binnenmarkts und für einer nachhaltigen Ausrichtung der zukünftigen Agrarpolitik ist dieser Bericht ein Meilenstein für die politische und wirtschaftliche Agenda der neuen Kommission, die in wenigen Wochen ihr Amt antreten wird. Diese Herausforderung werden sicherlich im kommenden mehrjährigen Finanzrahmen (2028-34) der ab nächstem Jahr verhandelt wird, ihren Niederschlag finden.
Ziel ist es die Säulen einer nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, dies sind wirtschaftliche Sicherheit, eine Offene Strategische Autonomie (im Sinne einer Balance zwischen multilateraler Zusammenarbeit und Autonomie in strategisch wichtigen Bereichen) und ein fairer Wettbewerb.
Draghis Bericht ist düster und zeigt klar die Schwachstellen der europäischen Wettbewerbsfähigkeit auf. Er verdeutlicht wie stark die EU in den letzten Jahren in wichtigen Wirtschaftsbereichen im Vergleich zu den im Wettbewerb stehend Partnern, nämlich den USA und China, ins Hintertreffen geraten ist.
Draghis Analyse definiert folgende Handlungsschwerpunkte: Schließen der im Vergleich zu unseren wichtigsten Handelspartnern enormen Investitionslücke von 750-800 Milliarden Euro pro Jahr (dies entspricht eine Steigerung des Investitionsanteils am BIP von 22% auf 27%), eine signifikante Beschleunigung der Innovation und Förderung neuer Wachstumsmotoren, eine Senkung der hohen Energiepreise auch um Dekarbonisierung und einen Übergang zur Kreislaufwirtschaft weiter voranzutreiben, eine Vereinfachung des europäischen Regelwerkes und last but not least eine Reduktion ungesunder Abhängigkeiten. Dies ist unumgänglich notwendig, um wirtschaftliche Sicherheit und Prosperität nachhaltig zu gewährleisten.
Entscheidend werden Maßnahmen zu Reduzierung der Energie- und Strompreise sein. So liegen etwa Strompreise für die Industrie zwei bis dreimal über den Preisen in den USA oder China. Im Vergleich zu den USA erklärt sich der Unterschied zum Teil durch niedrigere Produktionskosten, niedriger Steuern, dem Wegfall von CO2-Abgaben und geringere Netzstabilisierungskosten. Als Maßnahmen zur Senkung dieser Kosten empfiehlt Draghi unter anderem eine Vereinfachung und Rationalisierung der Genehmigungsverfahren, die Anwendung von langfristigen Lieferverträgen für erneuerbare Energiequellen und Kernenergie sowie Investitionen in Systemintegration und Netzstabilität.
Lohnend ist es auch auf ein weiteres Beispiel zur notwendigen Neuordnung einer der wichtigsten Industriebereiche einzugehen. Die Automobilindustrie ist direkt und indirekt Arbeitgeber für 13.8 Millionen Europäer, d.h. 6.1% der Beschäftigten. Sie ist somit eine der wichtigsten Industriesparten überhaupt und wurde sicherlich in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt. Obwohl ein anerkannter Motor der europäischen Wirtschaft mit hohem Innovationspotential befinden sich die Unternehmen dieser Branche in einem rasanten Umbruch. Internationaler Konkurrenzdruck, genauer von China, und sich beschleunigende technologische Umbrüche, insbesondere im Hochtechnologiebereich, tragen dazu bei, dass die europäische Autoindustrie nun ihre Vormachtstellung zu verlieren droht. Draghi empfiehlt hier unter anderem die Sicherstellung wettbewerbsfähiger Transformationskosten – beginnend mit Energie, ein kohärentes und vorhersehbares Regelwerk, einen technologieneutralen Ansatz bei der Überprüfung des Fit-for-55-Pakets oder der Unterstützung der Entwicklung von Lade- und Betankungsinfrastruktur.
Ein entscheidender Bereich zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ist weiters die Überbrückung von Qualitätslücken durch eine Verbesserung der Aus- und Fortbildung. Hier ist besonderes Augenmerk auf den Bereich neuer Technologien zu legen. Obwohl in diesem Bereich auch Problem in Österreich bestehen, ist das duale Ausbildungssystem ein wesentlicher, auch international anerkannter Bestandteil effizienter arbeitsmarkpolitischer Maßnahmen, um die uns viele beneiden.
Darüberhinausgehend enthält der Bericht einen detaillierten Maßnahmenkatalog für Schlüsselbereiche die für eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit entscheidend sind, beispielsweise Digitalisierung, KI, Pharmaindustrie, energieintensive Industrien, Raumfahrt, saubere Technologien aber auch für den militärischen und Sicherheitsbereich. Und gerade im Bereich der wirtschaftlichen Sicherheit sieht Draghi enormen Handlungsbedarf, da sich in den letzten Jahrzehnten eine ungesunde und einseitige Abhängigkeit von China entwickelt hat. Diese hat sich besonders in Bereichen der sauberen Technologien und der kritischen Rohstoffe eklatant vergrößert, ebenso hat sich die Vulnerabilität der Lieferketten erhöht. So kommen im Bereich der Photovoltaik (PV) fast 100% der wichtigsten Komponenten aus China, für Windenergie beträgt diese Abhängigkeit etwa 50 bis 80%.
Sicherlich können diese Abhängigkeiten nicht in allen Sektoren reduziert werden. Auch ist es wirtschaftlich nicht sinnvoll überall industriepolitische Maßnahmen zur Sicherung und Stützung zu ergreifen (Subventionen, Handelsschranken, Importzölle). Beispielsweise ist der Rückstand im Bereich der PV so eklatant und das Risiko einer Abhängigkeit relativ gering, so dass von Interventionen zum Wiederaufbau einer heimischen Industrie abzuraten ist. Jedoch stellt sich aufgrund der arbeitsmarktpolitischen Relevanz der Automobilindustrie die Situation für diese anders dar: diese gilt es zu erhalten, ausländische Investoren können aber durchaus willkommen sein. Völlig anders sieht dies zum Beispiel im Bereich der Netzinfrastruktur und dergleichen aus für die sowohl Produktion und europäische Eigentümerschaft sicherzustellen wären oder gar für neue Wachstumsmotoren, etwa grüner Wasserstoff oder Kreislaufwirtschaft. Für diesen Bereich sind Unterstützung und Schutz strategisch notwendig. Dies auch um zu verhindern, dass sich die Erfahrungen aus der Vergangenheit (Stichwort PV) nicht wiederholen.
Noch ein Wort zu einem Bereich der sich so in den letzten Jahrzehnten nicht prioritär dargestellt hat, dies zumindest auf EU-Ebene: Verteidigung und Sicherheit. Ein von der Kommission beauftragter und gerade veröffentlicht Bericht von Niinistö, des ehemaligen finnischen Präsidenten, unterstreicht diese Notwendigkeit. Die Kommission vertritt hier die Auffassung, dass alle einschlägigen militärischen und zivilen Krisenreaktionsakteure im Rahmen eines umfassenderen gesamtstaatlichen und gesamtgesellschaftlichen Ansatzes uneingeschränkt bereit und in der Lage sein müssen, wirksam und nahtlos zu reagieren. Insgesamt ist ein höheres Maß an Vorsorge erforderlich, welche die innere und äußere Sicherheit miteinander verbindet und sowohl auf zivile als auch auf militärische Mittel zurückgreift. Bis vor einige Jahre waren solche Ansätze auf EU-Ebene schlichtweg undenkbar. Dies ist eine Antwort auf eine dramatisch veränderte geopolitische und sicherheitspolitische Landschaft.
Die negativen Auswirkungen einer vernachlässigten Industrie- und einer ideologisierten Energiepolitik auf die europäische Wettbewerbsfähigkeit lassen sich nicht in wenigen Jahren korrigieren. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Empfehlungen zur Stärkung der europäischen Wirtschaft und wirtschaftlichen Sicherheit von der Kommission und den Mitgliedstaaten zügig umgesetzt werden. Gerade Mitgliedsstaaten sind angehalten die Kommission nicht aus ihrer Verantwortung zu entlassen, sondern beispielsweise auf der Ebene des Europäischen Rates deren Umsetzung einzufordern, diese zu überprüfen und wenn nötig nachzuschärfen.
Austrian Senior Expert Erich Unterwurzacher war einen Großteil seiner beruflichen Laufbahn in internationalen Organisationen tätig, u. a. bei der OECED und mehr als 20 Jahre in der EU-Kommission.