Eine Analyse unseres Senior Experts Erich Unterwurzacher -er verbrachte einen Großteil seines beruflichen Lebens auf der internationalen Bühne, unter anderem bei der EU und der OECD, zuständig für energiepolitische Fragen.
De-risking – ein „buzzword“ etwas freundlicher als de-coupling – zieht im Grunde auf eine Verringerung einer einseitigen Abhängigkeit unserer Volkswirtschaften in wichtigen Teilbereichen der Wirtschaft ab. Insbesondere geht es dabei um Abhängigkeiten von Drittländern in Bereichen, die für Sicherheit/Verteidigung, erneuerbarer Energie/Dekarbonisierung aber auch für die medizinische Versorgung essenziell sind. Die Gefahr einer fortschreitenden Deindustrialisierung gerade in diesen Schlüsselbereichen spielt auch eine wesentliche Rolle.
Wie schwerwiegend die Folgen solcher Dependenzen sein können zeigte sich während der Corona-Pandemie. Pharmazeutische Produkte wurden knapp und Lieferketten kamen zum Stillstand. Aber auch aufgrund der geopolitischen Entwicklungen ist das Bewusstsein über diese Abhängigkeiten rasant gestiegen. Das von Frankreich ins Spiel gebrachte europäische Leitmotiv, die „strategische Autonomie“ ist nun in aller Munde.
De-risking heißt dieses Risiko zu verringern, ohne wirtschaftliche Verwerfungen und geopolitische Spannungen zu erhöhen. In einer sich neu ordnenden Welt bedeutet de-risking aber auch eine Abkehr – in Grenzen – von dem bis vor kurzem als wichtigsten Bestandteil der Globalisierung angesehen Grundsatz, nämlich dem Abbau von Handelsschranken.
Abhängigkeiten und deren Gründe: China konnte aufgrund von staatlicher Einflussnahme seine Position in für die Dekarbonisierung wichtigen Bereichen ausbauen und mit großem Abstand Marktführer werden. So dominiert es mit über 90% Anteil den PV-Markt in Europa und auch für Windkraft besteht die Gefahr, dass sich China’s Anteil am europäischen Markt ähnlich schnell vergrößert.
Die Produktionsvorteile die China zurzeit besitzt – kurze Genehmigungsverfahren, staatliche Subventionen, billige Produktionsfaktoren, etc – sind mittelfristig uneinholbar. Auch bestehen in wichtigen Bereichen freie Kapazitäten, die es China ermöglichen wird, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden, europäische Anbieter durch einen verstärkten Preiskampf aus dem Markt zu verdrängen. Aber auch in anderen Bereichen besteht ein Risiko: so kommen etwa bis zu 80% der Arzneistoffe und bis zu 40% der Medikamente aus China und Indien.
Aus geopolitischen Überlegungen und ökonomischen Gründen verfolgen unsere wichtigsten Handelspartner, die USA und China, eine Politik der forcierten Stärkung der eigenen Industrie. Die Verstärkung dieses Trends ist gerade in den USA bemerkenswert. Der Inflation Reduction Act (IRA) leitete eine massive Förderungswelle ein, ausgelöst im Grunde durch steuerliche Subventionen. Dies führte zu einem rasanten Anstieg von Investitionen in Bereichen, die für eine Dekarbonisierung entscheidend sind. Schon im ersten Jahr wurden durch den IRA fast 300 Mrd$ saubere Energieprojekte genehmigt und fast 200 000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Windparks und sauberer Stahl sind hier anzuführen, und insbesondere Investitionen in Batterieproduktion führten zu einem massiven Abfluss aus Europa.
Antworten auf EU-Ebene: Die Europäische Kommission hat in den letzten Monaten Maßnahmen ergriffen um die für die europäische Industrie nachteiligen Praktiken Chinas abzuschwächen. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich das schon im letzten Jahr eingeleitete Verfahren betreffend Einfuhren von Elektrofahrzeugen (EV). Die Kommission untersuch ob Produzenten von EVs von rechtswidriger Subventionierung profitieren und ob diese Subventionierung eine wirtschaftliche Schädigung der EV-Hersteller in der EU verursacht. Obwohl dieses Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, kann man annehmen, dass Schritte unternommen werden, die Wettbewerbsverzerrungen etwa durch Erhöhung von Einfuhrzöllen abmildern und damit die europäische Automobilindustrie und deren Zulieferer vor unfairem Wettbewerb schützen.
Im April leitete die Kommission eine Prüfung potenziell marktverzerrende Auswirkungen Chinesischer Subventionen im Bereich der Photovoltaik ein, die Anbietern im Rahmen eines öffentlichen Vergabeverfahrens gewährt werden. Es geht hier um die Vergabe von Aufträgen für einen Photovoltaikpark in einem Mitgliedsstaat (interessanter Weise wurde dieses Projekt teilweise durch die EU finanziert). Auch im April hat die Kommission eine Untersuchung gegen chinesische Zulieferer von Windkraftanlagen begonnen. Dies erfolgt zu einem Zeitpunkt, in dem chinesische Windkraftanlagenhersteller große Anstrengungen unternehmen um Aufträge in Europa gewinnen. Sie bieten billige Turbinen und großzügige Finanzmittel an, was die Integrität des europäischen Marktes verzerrt und den fairen Wettbewerb stört. Im medizinischen Bereich läuft eine Untersuchung über chinesische Diskriminierung gegen europäische Unternehmen.
Flankierend zu diesen punktuell ansetzenden Maßnahmen werden durch das unlängst ausverhandelte Gesetz zu kritischen Rohstoffen weitere Eingriffe ermöglicht um die strategische Autonomie zu verstärken. Mit diesem Gesetz sollen klare Fristen für Genehmigungsverfahren für europäische Förderprojekte eingeführt und die Möglichkeit geschaffen werden, ein Projekt als strategisch einzustufen. Risikobewertungen der Lieferkette werden laut dieser Verordnung künftig Pflicht. Mit ehrgeizigen Richtwerten für Gewinnung, Verarbeitung und Recycling und der Diversifizierung der Einfuhrquellen soll der Zugang der EU zu kritischen und strategischen Rohstoffen sichergestellt werden. Autarkie wird sicherlich nicht angestrebt, sie ist weder möglich noch wirtschaftlich sinnvoll. Bis 2030 sollen beispielsweise 10% der kritischen Rohstoffe in der EU gewonnen werden. Im Bereich der kritischen Rohstoffe bezieht die EU 100% ihres Bedarfs an Seltenen Erden aus China, aus der Türkei bezieht die EU 98 % ihres Bedarfs an Bor oder aus Südafrika bezieht die EU 71 % ihres Bedarfs an Platin.
Die Chancen: De-risking ist eine Neuorientierung durch die sich weitreichende Chancen für unsere Wirtschaft ergeben werden. Die EU setzt sich ehrgeizige Ziele strategische Autonomie in Schlüsselbereichen der Industrie- und Wirtschaftspolitik (wieder) zu erlangen. Es kann angenommen werden, dass die schon bestehende Maßnahmen in der nächsten Zeit wesentlich verstärkt werden. Dies wird rechtliche Rahmenbedingung betreffen, aber sich auch in der Ausrichtung des neuen Finanzrahmens, der ab nächstem Jahr verhandelt wird, wiederfinden. Schwerpunkte lassen sich bereits erkennen: Verteidigung, Industriepolitik, strategischer Technologien, Dekarbonisierung. Es ist anzunehmen, dass Förderprogramme und andere unterstützende Maßnahmen, wie staatliche Beihilfen, verstärkt auf diese Bereiche abzielen werden. Ziel ist es, Resilienz und die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen nicht nur in Europa sondern auch international zu stärken. Es ist sicher, dass sich für die österreichische Industrie und Forschung lohnende Investitionen ergeben werden.